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„...und wer will, der nehme Wasser des Lebens umsonst.“
Offenbarung des Johannes, 22












Die Kundalini


Der indische Subkontinent ist die reichhaltigste Wiege der Spiritualität auf unserem Planeten. Nirgendwo sonst gibt es so detaillierte, fundierte und so alte Erkenntnisse über Religion und Mensch wie in Indien. Im Westen ist davon sehr wenig bekannt, dass sich das Erziehungssystem im Wesentlichen auf die westliche Denkschule beschränkt. Das meiste aber, was an Esoterikwellen und Ähnlichem über uns schwappt, sind verballhornte und verdrehte Versionen der alten vedischen Schriften und Überlieferungen.

Findige Geschäftemacher passen alte Wahrheiten den vermeintlichen Bedürfnissen der modernen Gesellschaft an, und versuchen indische Spiritualität zu vermarkten. Da in der indischen Gesellschaft das alte Wissen noch immer tief verwurzelt ist und respektiert wird, stehen diese Geschäftsleute in Indien selbst auf verlorenem Posten. Die Schwierigkeit für uns Europäer ist, das Echte vom Falschen zu unterscheiden.

Auch wenn der Hinduismus in allen nur denkbaren Färbungen und Facetten existiert, liegt ihm der Gedanke einer letzten Einheit zugrunde. Dieses Eine ist
Brahman, oder Sadashiva. Durch seine Kraft Mahamaya (die Grosse Illusion) erschafft er alle Aspekte des Göttlichen, des Lebendigen und des Materiellen. Am Ende nimmt er alles wieder in sich auf. Yoga, im eigentlichen Wortsinn „Verbindung“ - nämlich mit Gott - umfasst alle Anstrengungen des Menschen auf spirituellem Gebiet. Eine einzelne Technik oder eine bestimmte Übung ist nichts, nur das Ganze zählt.

Da wir soviel von Indien bekommen können, wollen wir uns näher mit den Fundamenten dieses Wissens befassen. Diese sind die klassischen alten Schriften, wie z.B. die Veden oder Upanishaden, sowie die Lehren der in Indien verehrten alten Heiligen und Gurus, etwa Markandeya oder Tukaram. - Es soll hier aber auch versucht werden, auf die entsprechenden Aussagen in den heiligen Schriften anderer Religionen einzugehen.

Bei den meisten modernen Abhandlungen (1) zum Thema Kundalini wurden diese Wurzeln religiösen Wissens vernachlässigt. Den alten Quellen nach ist die Kundalini die subtilste, heiligste und mächtigste Kraft des Universums, welche unter gewissen Voraussetzungen Sterblichen zugänglich ist. Diese Superlative sind ganz konkret und buchstäblich gemeint. Nicht einmal die Rishis, die Weisen und Heiligen, die mit den Göttern selbst verkehrten, durften in Menschen die Kundalini erwecken. Aus diesem Gesichtspunkt läßt sich die Oberflächlichkeit von „Kundalini-Seminaren“ und ähnlichen Angebote sehen. Die Kundalini ist schließlich keine Entdeckung unserer Zeit, sie wurde bereits tausende Jahre vor Christus beschrieben. Was wir über sie wissen, wissen wir aus alten indischen Schriften.

Versuchen wir uns dieser gewaltigen Kraft zu nähern, soweit man das in Worten kann. Viele Namen der Kundalini sind zugleich Namen für die Göttin
Parvati als Jungfrau (Uma, Gauri). Der Name Parvati gilt eigentlich erst ab dem Zeitpunkt ihrer Heirat mit Shiva. In ihrem Aspekt als Mutter wird die Gattin Shivas die Devi, die Herrscherin des erschaffenen Universums. Als Devi nimmt sie ihre Inkarnation in Zeiten, in denen negative Kräfte sogar den Göttern zu mächtig werden; sie vernichtet alle Dämonen unausweichlich und gnadenlos, und beschützt die Kinder ihrer Schöpfung.

Eine analoge Macht wird der Kundalini zugeschrieben, wenn sie im Menschen selbst reinigend wirkt, also in uns Hindernisse beseitigt. Eine Verbindung besteht weiters zwischen der Urkraft Shri
Adi Shakti und Kundalini.(2) In den wenigen Quellen, die es über Shri Adi Shakti gibt, heißt es meistens, dass diese höchste Kraft unbeschreiblich ist.(3) Sie ist das erste Sein, das eine Manifestation bewirkt; die Verbindung zwischen dem formlosen, nichtmanifestierten Gott und aller Schöpfung. Die Kundalini soll eine Verbindung mit dem Göttlichen ermöglichen. Adi Shakti wird als so unfassbar beschrieben, dass Shiva, Vishnu und Brahmadeva, die drei mächtigen Götter des Hinduismus, außer sich vor Erstaunen waren, als sie die Sphäre der großen Göttin besuchen durften (Devi Bhagawatam, III.Buch, vgl. FN3). Erst nach einiger Zeit erkannten sie, dass sie sich im Haus ihrer Mutter befanden. Abgesehen von der phantastischen Kraft, die in der Kundalini als Teil der Urkraft ruht, kristallisiert sich in den authentischen Quellen deutlich der beschützende, mütterliche Aspekt heraus.

Bevor wir auf konkrete Textstellen in alten Schriften, insbesondere der
Jnaneshwari, eingehen, wollen wir näher auf die „Funktion“ der Kundalini eingehen. Dabei müssen wir uns auf die größte Autorität zu diesem Thema zu berufen: Shri Mataji Nirmala Devi, die nicht nur in Indien als die Inkarnation der göttlichen Urkraft gesehen wird. Ihre Bekanntheit in Indien wie auch im Westen beruht auf der Tatsache, dass Sie tatsächlich eine praktische Erfahrung der Kundalini-Kraft vermitteln kann. Tausende von Indern bezeugen dies, und auch viele Menschen unserer Breiten, die das Glück hatten, Shri Mataji zu treffen.

Shri Mataji Nirmala Devi erklärt die Kundalini als die Energie des göttlichen Wunsches jedes Lebewesens wieder eins mit Gott zu werden. Diese Energie wirkt seit dem Beginn der Schöpfung und treibt die Evolution voran. Das Wissen um die Kundalini bedeutet einen Brückenschlag zwischen der Evolutionstheorie und Schöpfungstheorie. Die Kundalini ist die göttliche Kraft, welche die Evolution intelligent und sanft lenkt. In unserer westlichen Tradition wurde diese Kraft als die Energie des heiligen Geistes umschrieben, in der hebräischen Überlieferung heißt sie „Ruach“.

Wenn ein Mensch in seinem inneren, subtilen Wesen vollkommen rein ist, erlangt er bei Erwachen der Kundalini vollkommene Befreiung,
Moksha. Diese vollständige Befreiung trat bei Buddha ein, da er vor seiner Selbstverwirklichung allen Bindungen und Versuchungen entsagt hatte. Wird die Kundalini in „unvollkommenen“ Menschen erweckt, so beginnt sie, die verschiedenen Energiezentren, die Chakras, zu reinigen. Der archetypische Wunsch, mit dem Ursprung der Schöpfung eins zu werden, bewirkt mit dieser Heilung der Chakras eine erste Annäherung an das Ziel.

Die Deutung der Kundalini als Urwunsch deckt sich mit der klassischen Darstellung der Shri Adi Shakti, die im Schöpfungsakt zuerst den Wunsch (
Iccha-Shakti), dann erst die Tat (Saraswati) verkörpert. Die letzte, vollkommene Befreiung ist das Verschmelzen der Seele, des Atma (Shiva), mit der Kundalini (Shakti), sodass das Atma in uns bewusst wird. Sat-Chit-Ananda - die Wahrheit, das alles durchdringende Bewusstsein und die reine Freude werden in uns Wirklichkeit. Das Sahasrara-Chakra über der Fontanelle an der Schädeldecke öffnet sich. Unser Ego und unsere Bindungen werden von einer Flut göttlichen Nektars, vom Wasser des Lebens, das aus dem Sahasrara strömt, weggespült. Diese Vorgänge werden in alten Schriften häufig sehr poetisch beschrieben:

„Ich bin verführt worden und weit verschleppt,
mit einer Last auf meinem Kopf,
jetzt bin ich der Last entronnen, da du mich aufgenommen hast.
Wie oft habe ich dich angerufen in der Vergangenheit!
Ich sage, heute hat meine Anbetung Frucht getragen!”

Tukaram, “The Poems of Tukaram”, Kap.XII, 593, Delhi, 1983.

„Du vergnügst dich, abgeschieden, nur mit deinem Herrn,
im tausendblättrigen Lotus (Sahasrara), nachdem du durchdrungen
die Erde im Mooladhar (os sacrum - Kreuzbein),
das Wasser im Manipura (Nabhi-Chakra),
das Feuer, das im Swadisthana wohnt,
das Luftelement im Herz,
den Äther darüber (Visshuddhi-Chakra)
und zwischen den Augenbrauen das Manas
(Verstand/Gedächtnis = Ego/Bedingungen).
So brichst du durch den ganzen Pfad
(mittlerer Kanal = Sushumna).”

Shankaracharya, “Saundarya-Lahari (The Ocean of Beauty)”, Vers 9, Adyar, 1977.

So beschreiben die alten Weisen die Öffnung des obersten Chakras. Die „Last auf meinem Kopf“ im ersten Gedicht ist ein Synonym für unsere eingebildete Ich-Haftigkeit, unsere Identifizierung mit unseren Gedanken, unsere Hirnlastigkeit. Nur mit Hilfe der Kundalini kann der tausendblättrige Lotus, das Sahasrara, das Ego transzendieren.

Woher kommen nun jene modernen und häufig widersprüchlichen Berichte vermuteter Kundalini-Erfahrungen, die oft sehr unangenehme Vorgänge beschreiben? Diese können auf eine falsche Übersetzung des ersten umfassenden Kundalini-Textes in der Jnaneshwari einerseits, und auf Verständnisfehler andererseits zurückgeführt werden. Der Verständnisfehler liegt im Übersehen der Voraussetzung einer echten persönlichen Erfahrung. Erst dann kann man die Texte richtig lesen - doch dazu später.

Die Lehre von der Kundalini war sehr lange Zeit geheimes Wissen, das nur zusammen mit der Selbstverwirklichung, dem Erwecken der Kundalini, weitergegeben wurde. Dies war die echte Meisternachfolge, eine Kette von Heiligen bzw. Gurus, die nicht durch einen leeren symbolischen Akt, sondern durch einen lebendigen Prozess fortgesetzt wurde.

In der
Bhagavadgita wird die Kundalini kurz gestreift. Die Upanishaden behandeln das Thema teilweise. Der Seher Markandeya ist der erste, der (tausende Jahre vor Christi Geburt) das Schweigen bricht, und über die Kundalini berichtet. Allen diesen klassischen Werken der indischen Philosophie ist gemeinsam, dass sie schwer zu verstehen sind und das Wirken der Kundalini nur genau beschreiben.

Das ändert sich im dreizehnten Jahrhundert n.Chr. Um 1275 wird im Herzen Indiens, in Maharashtra, Jnanadeva (auch Jnaneshwar oder Dyaneshwar) geboren. Er gilt als einer der wichtigsten Heiligen Indiens, wenn er diese Welt auch schon in sehr jungen Jahren verließ, und mit 22 Jahren sein
Samadhi nahm.

Da die Bhagavadgita in Sanskrit geschrieben war, fehlte der breiten Masse der direkte Zugang zum populärsten religiösen Werk der Hindus. Jnanadeva ließ sich dazu „überreden“, die Gita in Marathi zu erläutern. Dieses Werk, die
Jnaneshwari, ist wesentlich voluminöser als die Bhagavadgita und enthält mehr Detailwissen. Man sagt, die Jnaneshwari lese sich wie ein Kommentar des Gottes selbst, der in der Gita wirkt (Vishnu = Krishna).

In Maharashtra wurde und wird Marathi gesprochen. Natürlich hat sich diese Sprache in siebenhundert Jahren seit Jnaneshwar verändert. Marathi ist eine reiche, vielschichtige Sprache, eine wahre Schatztruhe für Poeten, Dichter und die Verfasser religiöser Schriften. Die Bedeutung der Worte verändert sich je nach Kontext; subtile Metaphern und spirituelle Erklärungen können nur im Zusammenhang verstanden werden. Diese Sprache und das Land Maharashtra haben eine besondere Bedeutung im spirituellen Werden Indiens. Sita und Rama (die als Inkarnationen des Gottes Vishnu und seiner Gattin Laxmi verehrt werden) wandelten auf diesem Boden. Ekanath, Tukaram und viele andere bedeutende Rishis und Heilige hinterließen ihre Werke in Marathi.

Im sechsten Kapitel dieser Jnaneshwari wird die Kundalini und ihr Wirken beschrieben. Auch dieser Text ist nicht ohne weiteres zu verstehen: die Schriftgelehrten sind diesem schwierigen Kapitel siebenhundert Jahre lang ausgewichen und haben immer versucht, den Inhalt zu verschleiern. Vielleicht, weil sie dieses Kapitel mangels echter spiritueller Erfahrung selbst nicht verstehen konnten. - Der für uns wichtige Punkt: Die im Westen aufliegenden, hauptsächlich englischen Übersetzungen sind nicht korrekt. Sie dürften alle auf dieselbe Ur-Übersetzung zurückgreifen, da die Fehler auffallend ähnlich sind. Diese sprachlichen Irrtümer sind die Ursache für die verwirrenden Beschreibungen der Kundalini in der westlichen Welt. So besteht z.B. ein wesentlicher Übertragungsfehler darin, den Sitz der Kundalini in der Magengegend anzunehmen, wie das auch Avalon in seinem Buch (s. FN 1) anführt. Im Originaltext ist davon keine Rede.

Auch Shankaracharya (8. Jh. A.D.) sagt in der Saundarya-Lahari (vgl. oben) im zehnten Vers: „In der Form einer Schlange ruhst du in dreieinhalb Windungen in der Höhlung der Kulakunda.“(4) Damit ist jener Knochen in Dreiecksform gemeint, auf den wir noch genau zu sprechen kommen werden. Schließlich ist wiederum auf die
Devi Bhagawatam zu verweisen, wo in Buch XII, Kapitel 5, die Welten-Mutter (Adi Shakti) auch als die „Kundalini im Mooladhar“ beschrieben wird.

Daneben existiert noch der erwähnte Verständnisfehler: Am Ende des zehnten Untertitels von Kapitel sechs erklärt Krishna den Weg der wahren Yogis und sagt deutlich, dass dies der Weg der Selbstverwirklichung ist, wobei kein Zweifel bleibt, dass diese Selbstverwirklichung von Gott gegeben wird (5). Als Arjuna nach diesem Wissen drängt, sagt Krishna (elfter Untertitel, erster Satz): „Ich erkläre es dir nun, doch nur durch die Erfahrung wird es einen Sinn bekommen". Damit ist klar, dass ein rein mentale Auseinandersetzung mit der Kundalini zwecklos ist, wenn die Erfahrung der Selbstverwirklichung fehlt. Die mangelhaften Übersetzungen bestätigen die Worte Jnanadevas.

Nach dieser Einführung folgt die Beschreibung des
Asanas, der Sitzhaltung, welche für die Erweckung der Kundalini vorteilhaft ist. Die Erweckung selbst kann nur von einer Person vorgenommen werden, die dazu autorisiert ist. Bei der Beschreibung des Asanas wird mehrmals vom „festen Sitz“ gesprochen, der mit dem untersten Chakra (Mooladhara-Chakra) identisch ist. Dieses liegt an der Wurzel des Rumpfes und bewacht die im Kreuzbein (Mooladhar) schlafende Kundalini. Eine Schwäche dieses untersten Chakras, das die Qualitäten von Unschuld und Weisheit beherbergt, bewirkt Schwierigkeiten beim dauerhaften Wirken der Kundalini, da es deren Stütze ist. Das Asana solI es der Aufmerksamkeit erleichtern, sich von körperlichen Vorgängen zu lösen. Später, im dreizehnten Untertitel, wird erwähnt, dass die Handflächen nach oben weisen sollten, was für die Wahrnehmung der Kundalini-Energie wichtig sein wird.

Es besteht ein Unterschied zwischen dem
Mooladhara-Chakra und dem darüber liegenden Mooladhar (Kreuzbein), dem dreiecksförmigen Knochen unmittelbar am Ende der Wirbelsäule. Bei der Erweckung der Kundalini kann die pulsierende Kraft manchmal mit freiem Auge im Kreuzbein wahrgenommen werden. Das ist der beste Beweis für den wirklichen Sitz der Kundalini; alle anderen Zuweisungen entsprechen nicht der Realität.

An der Basis der Wirbelsäule liegend, steigt sie durch den "mittleren Kanal" (
Sushumna) auf, der physiologisch eine Entsprechung im canalis centralis in der grauen Substanz des Rückenmarks findet. Der medizinische Terminus für das Kreuzbein ist os sacrum, heiliger Knochen, von den Römern in direkter Übersetzung aus dem Griechischen übernommen. Der besondere Status des os sacrum war in der Antike auch im Westen bekannt. Von den alten Ägyptern wissen wir, dass sie das Kreuzbein ebenfalls als einen heiligen dem Gott Osiris zugehörigen Knochen betrachteten.

In einem Artikel des "Journal of the American Medical Association" (JAMA) von 1987 heißt es: "Die Vorstellung, dass das
sacrum der letzte Knochen des Körpers ist, der nach dem Tode zerfällt, und, deshalb, für die Wiederauferstehung notwendig ist, könnte es als heilig qualifizieren. Der erste biblische Hinweis, dass ein einzelner Knochen für die Wiederauferstehung gebraucht werden könnte, ist unter den Psalmen, 34:21, zu finden: „Der Herr bewahrt alle ihre Gebeine, eines davon wird nicht zerbrochen werden…-"(6). Diese Vorstellung der Wiederauferstehung oder zweiten Geburt ist in irgendeiner Form in allen Religionen präsent (7).

Der vierzehnte Untertitel in Kapitel 6 der Jnaneshwari, eine Offenbarung für jeden, der das Wirken der Kundalini spüren kann, erweist sich in der Übersetzung schlicht als Katastrophe. Dem Wissen fehlt ohne Erfahrung der Zusammenhang. Wir greifen einige wichtige Aspekte heraus, um dies zu untermauern. Die Übersetzung des Marathi Wortes "Tap" als "Hitze", die das Erwachen der Kundalini verursache, ist im Zusammenhang gesehen unrichtig. "Tap" bedeutet hier "Kraft", die aus der Übung des
Asanas kommt und die die Erweckung ermöglicht, aber nicht bewirkt. Die Aktivierung der Kundalini ist ein Vorgang jenseits menschlichen Willens und Handelns.

In weiterer Folge wurde in den Übersetzungen durch ein Verkennen von subtiler Nuancen aus der Mutter Kundalini ein Ungeheuer, das gierig die Eingeweide verschlingt - dort wo in subtiler Bildersprache die Kraft beschrieben wird, die begierig ist, die zweite Geburt zu geben, den ganzen Körper zu durchdringen und zu erneuern. Der Körper und seine Organe, jede Zelle bis zu den Haarwurzeln wird von der Kundalini erfasst und gereinigt. Dieser Vorgang wird bei Jnanadeva im Detail beschrieben. Auch wird das Wirken der verschiedenen Atemkräfte in Zusammenhang mit der Kundalini dargestellt, und vieles mehr. Es gibt heute sicher keinen Menschen, der die Kundalini in seinem Körper und in seinem subtilen System so genau beobachten und verstehen könnte wie dieser große Heilige.

Die Jnaneshwari fährt fort mit dem Vorgang nach der Reinigung der subtilen Zentren: Die Kundalini bleibt im mittleren (
Sushumna) von drei feinstofflichen Kanälen und ergießt "Wasser, das zu Nektar wird, aus ihrem Munde". Dieses wiederum bringt einen "Lebenswind" hervor, "der eine kühle/kühlende Empfindung am und im Körper erzeugt"(8). Diese kühle Brise kann am besten in den nach oben gerichteten Handflächen und über dem Scheitel (Sahasrara-Chakra) verspürt werden.

Diese Wahrnehmung der Kühle ist auch in der Koran-Sure 36,65 beschrieben: "Eines Tages werden wir ihren Mund versiegeln und ihre Hände werden zu uns sprechen." Diese Sure, genannt "das Herz des Koran", ist überschrieben mit den Buchstaben „JS". Die Hände
sprechen, indem jeder Finger, die Handwurzel und die Handinnenfläche je einem Chakra entsprechen. So kann durch die Art der Empfindung auf der Hand auf den Zustand der entsprechenden Chakras geschlossen werden. Es gibt im Koran auch noch weitere Hinweise auf die Wahrnehmung der Wirkung der Kundalini, so in Sure 24, 24, oder Sure 41, 21 ff.

Diese spürbare Energie existiert nicht erst nach der Erweckung der Kundalini. Es ist dieselbe göttliche Kraft, die die Kundalini im Menschen individuell erwachen lässt. So wie Jnaneshwar das Bild des "Wassers" oder "Lebenswindes" verwendet, finden wir die Kundalini und ihre Wirkungen also auch bei anderen großen Propheten beschrieben.

Im Johannesevangelium, 4, beschreibt Jesus an einem Brunnen diesen Vorgang einer Samariterin: "Wenn du die Gabe Gottes erkennen könntest, und wer der ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken! So würdest du ihn etwas gebeten haben und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben. ... Jeder, der von diesem (gewöhnlichen) Wasser trinkt, den dürstet wieder; wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird nicht mehr dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zur Wasserquelle, die ins ewige Leben fortströmt." -

Die Vollendung der Aufgabe der Kundalini schildert Jnanadeva in schönster Marathi-Poesie. Die Haut ist nur mehr eine Hülle, im Inneren befindet sich das strahlende Wesen der siebzehnten Mondphase. Der Vollmond, die sechzehnte Mondphase, bedeutet die Erfüllung. Lediglich
Sadashiva steht darüber, im erleuchteten Sahasrara.

Aus den alten Schriften lässt sich eine Strukturierung des inneren Systems erkennen, die in Indien heute noch geläufig ist (vgl. die Abbildung; die Chakras und die ihnen entsprechenden Finger bzw. Stellen der Hand tragen jeweils die gleichen Ziffern)(9).

Zuunterst der vierblättrige Lotus, das
Mooladhara-Chakra. In ihm residiert der Wächter der Kundalini, der Weisheit und Unschuld verkörpert. Die Kundalini befindet sich über diesem Zentrum im os sacrum, kann also bei ihrem Aufstieg gar nicht durch das darunter liegende Chakra gehen. Versucht man aber, die Kundalini zu erwecken, ohne dazu autorisiert zu sein, sendet der Wächter der Kundalini im Zorn Wellen von Hitze durch den Körper. Häufig werden diese Hitzewellen fälschlich als Erwachen der Kundalini gedeutet, es ist aber das Gegenteil (10).

Jnanadeva sagt klar und deutlich, dass Kühle die Empfindung der aufsteigenden Kundalini ist. Jede falsche, unerlaubte Berührung des Kundalini-Prinzips führt zu einer Beschädigung, die eine spätere Erweckung erschwert. Nur wenn der Prozess von einer dazu berechtigten Person ausgelöst wird, führt er zur Erfüllung. Die Kundalini als intelligente und mütterliche Kraft fügt niemals einen Schaden zu. Selbst, wenn sie physische Krankheiten heilt, entstehen nicht mehr Unannehmlichkeiten als sonst im Krankheitsfall. Alle unkontrollierbaren und schmerzhaften Erfahrungen sollte man als ernste Warnung ansehen, falsche Techniken oder Übungen aufzugeben. - Das Gesamtbild des inneren, feinstofflichen Systems des Menschen, wie nicht nur bei Jnaneshwara beschrieben, lässt sich durch die praktische Erfahrung verifizieren.

Im Zusammenhang mit dem erwähnten Mooladhara-Chakra muss deutlich gesagt werden, dass Sexualität grundsätzlich mit der Kundalini und ihrem Wirken nichts zu tun hat. Eine unnatürliche, übermäßige Fixierung der Aufmerksamkeit auf Sexualität schwächt jedoch dieses unterste Chakra. Ebenso erschweren Probleme in den anderen, darüber liegenden Zentren (Chakras) den Aufstieg der Kundalini. - Das grundlegende Prinzip der Moral, des
Dharma des Yogis ist die Unabhängigkeit von jeglichen Begierden, auch den sexuellen. Dies ist in jedem genuinen religiösen Text, nicht nur Indiens, zu entnehmen (11). Es bedeutet jedoch weder Kasteiung oder Zölibat. Man kann durchaus ein normales Eheleben führen, sollte aber nicht einmal in Gedanken irgendwelchen Versuchungen erliegen. (vgl. die Worte Jesu', bei FN 11). Die Vermarktung des weiblichen Körpers und die Instabilität der Beziehungen zwischen Mann und Frau im Westen schaffen natürlich die denkbar ungünstigsten Bedingungen für spirituelles Wachstum.

Wie oben in Shankaracharyas Gedicht beschrieben und in Indien allgemein bekannt, durchdringt die Kundalini auf ihrem Weg ins
Sahasrara-Chakra nacheinander das Nabhi-, Swadisthana-, Anahata-, Visshuddhi- und Agnya-Chakra. Das Swadisthana-Chakra kreist um das Nabhi-Chakra und erzeugt dabei einen Bereich (in der Abbildung als Kreis in der Bauchgegend dargestellt), der das Guru- und das Schülerprinzip repräsentiert.

Sobald die Kundalini das
Agnya-Chakra auf der Stirn durchdringt, stellt sich Nirvichara-Samadhi ein, gedankenfreies Bewusstsein. Erst damit kann man von einer gewissen Erfahrung sprechen, die ein tieferes Verständnis z.B. eben der Jnaneshwari erlaubt. Nirvichara-Samadhi ist wie alle Bewegungen der Kundalini spontan. Durch Willenskraft kann Samadhi nicht erzielt werden. Daher ist auch die Vorstellung, durch Konzentrationsanstrengungen echten spirituellen Fortschritt zu erlangen, leider nur ein gedankliches Konzept (12). In weiterer Folge werden die beiden subtilen Kanäle links und rechts vom mittleren Kanal erleuchtet. Der linke Ida-Nadi steht für Emotionen, Konditionierungen und die Vergangenheit, der rechte Pingala-Nadi für jede Art der Aktivität und für die Zukunft.

Der ganze Vorgang korreliert physisch mit dem parasympathischen System, ist daher bewusst nicht steuerbar. Das echte Erwachen der Kundalini ist von keinerlei unkontrollierbaren Zuständen begleitet. Es stellt sich die Empfindung tiefen Friedens und tiefer Freude ein, auf den Handflächen und am Scheitel spürt man eine kühle Brise. Wenn die subtilen Zentren, die Chakras, sehr beschädigt sind, reduziert sich die Wahrnehmung der Kundalini entsprechend. Parallel zum Prozess der sukzessiven Reinigung der inneren Zentren werden tiefe Meditationserfahrungen möglich, die auch im täglichen Leben nachwirken und dieses positiv verändern.

Nur wer in der Lage ist, die Kundalini zu erwecken, so dass die bei Jnanadeva und anderen Meistern beschriebenen Effekte eintreten, sodass das Wasser des Lebens fliesst, darf als echter Guru in der besten Tradition der großen indischen Lehrer bezeichnet werden.

Udo und Mala S.
________________________________
1) Z.B. Gopi Krishna, Kundalini, Lustig-Verlag, 1983; Arthur Avalon, Die
Schlangenkraft, Bern 1982; Shivananda, Kundalini Yoga, München-Planegg 1953.

2) Die eingangs erwähnte "Mahamaya", "die Grosse Illusion", ist ein Aspekt der Adi Shakti.

3) Z.B. Devi Bhagawatam, wie "The Srimad Devi Bhagawatam", Munshiram Manoharlal, Delhi, 1977, vgl. insb. Buch III, Kap. 3 ff.

4) Die dreieinhalb Windungen der Kundalini entsprechen den drei "Stimmungen", Gunas (Grundprinzipien), der Schöpfung, und die halbe Windung repräsentiert die Kraft zwischen Manifestation und dem nicht Manifestierten. Die drei Prinzipien sind Mahakali, Mahasaraswati und Mahalaxmi: Wunsch, gleichzeitig die alle Hindernisse beseitigende Kraft; dann Aktion bzw. Kreation und schliesslich die Kraft des mittleren Kanals und der Evolution. Die Kundalini ist, wie schon gesagt, eine mütterliche Energie, und es ist kein Zufall, dass die ersten Kräfte des Universums in alIen Kulturen weiblich sind ("Die Mütter" in Goethes Faust). So kennen wir die drei Urprinzipien im alten Rom als Parzen, im antiken Griechenland als Moiren: Klotho, Lachesis und Atropos. Am Fusse der germanischen Weltesche Yggdrasil verweilen die "Nornen" Urd, Werdandi und Skuld, die Leben und Schicksal der Menschen bestimmen.

5) VgI. die Vedas, Samaveda, Buch III, Kap. 2, V. Dekade, 10, "...Gott, der uns Dharma, Artha, Kama und Moksha gibt." - Moksha bedeutet vollkommene Befreiung, Erleuchtung.

6) JAMA, 1987, Vol. 257, 2061 ff, Oscar Sugar, PhD, MD, University of Illinois College of Medicine, Chicago.

7) Siehe auch Johannesevangelium, 3.3 ff. Jesus spricht zu Nikodemus von dieser zweiten Geburt und Nikodemus fragt, ob er denn in den Leib seiner Mutter zurückkehren müsse. Jesus antwortet, man muss aus dem Geiste wiedergeboren werden, "aus dem Wasser und dem heiligen Geiste". - Die Wichtigkeit, "neu geboren zu werden", wird auch von den echten Heiligen Indiens unseres Zeitalters betont, etwa bei Ramana Maharshi, "Die Suche nach dem Selbst", Interlaken 1985, z.B. 22.

8) Man entdeckt auch in der westlichen Literatur Hinweise auf diese Wahrnehmung:

"Mild creative breeze,
A vital breeze which travelled gently on
O`er Things which it had made."
Wordsworth, Prelude 1,43-45


"Still the Breath Divine does move,
And the Breath Divine is Love."
W. Blake, The Everlasting Gospel, 41-42

9) Im wesentlichen die hier zitierten:

Bagavadgita
Die Upanishaden
Devi Bhagawatarn

Schriften:
des Shankaracharya
des Markandeya
des Tukaram
und natürlich Jnanadevas.

10) Spannungszustände, ungewohnte Formen der Wahrnehmung und insbesondere Hitzewellen beschreibt auch Gopi Krishna (vgl. FN 1) fälschlich als Wirkungen der Kundalini; es handelt sich jedoch um Warnsignale, keinen Missbrauch mit dieser Kraft zu treiben.

11) Veden, Atharveda, Buch XX, Hymnus LXXII, 3; Bagavadgita, Zweiter Gesang, 55 u. 59 ff;
Shankaracharya, II Self-Knowledge ", Hymn of Renunciation, 15; Reden des Buddha, aus dem Pali-Kanon, 14., Anordnung für das Verhalten der Mönchsgemeinde nach dem Tode Buddhas; "Matthäus, 5.27 ff, "Ich aber sage euch, dass ein jeder, der ein Weib mit Begierde nach ihr ansieht, schon die Ehe mit ihr gebrochen hat in seinem Herzen." Koran, Sure 17,34, oder Sure 24,2.

12) Wie das etwa Shivananda (vgl. FN 1) behauptet.