Kabir (1440-1518)

Kabir gilt als einer wundervollsten spirituellen Dichter Indiens, der vermutlich auch ein Sänger und Musiker war. Askese und Fanatismus waren seiner Ironie und Spott ausgesetzt, daher galt er der islamischen und hinduistischen Orthodoxie als eine Gefahr. Wie viele großen Mystiker wurde er auch verfolgt. Das eigene Herz war für ihn der Garten der Liebe Gottes. Noch heute gibt es eine kleine Religionsgemeinschaft, die Kabirpanthis, welche sich von ihm ableitet. Diese Gemeinschaft ist weniger bekannt als die seines Zeitgenossen Guru Nanak (1469-1539). Beiden aber ging es nicht nur um religiöse, sondern auch um eine soziale Veränderung, zugunsten der Unterprivilegierten und war gegen die starre Vorherrschaft der Brahmanen gerichtet.

Eigentlich weiß man sehr wenig von Kabirs Leben. Seinem Namen nach stammte er aus einer Moslemfamilie. Um die Begegnung des jungen Kabir mit Ramananda rankt sich eine Legende. Kabir wußte sehr wohl wie schwierig es für einen Moslem war Schüler eines Hindu-Gurus zu werden. So verbarg er sich an den Treppenstufen zum Ganges, wo Ramananda immer zu baden pflegte. Als Ramananda die Treppe herunterkam, stieß er auf Kabir und rief: Ram! Ram! (‚Mein Gott!‘). Darauf erklärte Kabir, daß er eben sein „Initationsmantra“ aus Ramanandas Mund bekommen habe, denn er selbst verehrte Gott unter dem Namen Ram. Ramananda nahm ih als seinen Schüler auf, wie lange er dieser gewesen ist, scheint nicht sicher überliefert zu sein, ebenso, ob es richtig ist, daß er noch den Sufimeister Pir zum Lehrer hatte. Mit Ramananda nahm Kabir an Disputationen zwischen Mullahs und Brahmanen teil. Er bekannte, daß er ein Kind sowohl von von Allah als auch von Ram sei!

Im Zusammenhang mit Shri Kabir sagte Shri Mataji Nirmala Devi: „In jeder Situation, in jeder Person, in jeder Blume und in jedem Naturgeschehen könnt ihr deutlich die Hand des Göttlichen erkennen. Wenn ihr beginnt zu erkennen, daß das Göttliche in allem die Hand im Spiel hat, wenn ihr einmal zu sagen beginnt: Du bist derjenige, der alles tut! wird euer Ego beginnen zu vergehen.

Kabir hat etwas Großartiges gesagt. Er sagt in diesem Zusammenhang: „Eine lebende Ziege sagt mäh, mäh - ich bin, ich bin. Aber nachdem sie geschlachtet wurde und ihre Gedärme zu Schnüren verabeitet werden, um damit Baumwolle zu reinigen, sagt sie tui, tui - du bist, du bist. Es wird hier symbolisch ausgedrückt, daß man in dieser göttlichen Kraft aufgehen muß. Es ist die Göttliche Kraft, die alles vollbringt...“

Der Legende nach wurde Kabir um 1440 in Benares, der heiligen Stadt am Ganges als Sohn einer Brahmanen-Witwe geboren. Sein Pflegevater soll ein moslemischer Weber gewesen sein. Auch eine Ehe scheint er gegründet zu haben. Kabir lobt das Alltagsleben, Haus und Familie. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte Kabir wohl in Benares. Er kannte auch Guru Nanak, den Begründer der Sikh-Bewegung, welcher von ihm zweifellos beeinflußt wurde. Kabir starb mit 78 Jahren in Maghar bei Gorakhpur in Uttar Pradesh.

Der Autor Günther Wolf schrieb zu seinen Gedichten: „Hundertfach wechseln die oft aus dem Alltag des Handwerkers, des Schiffers, der Braut etc. genommenen Bilder, um diese Vereinigung zwischen Gott und Sucher, dem Sucher und dem Sein, dem Geliebten zuschildern, zu preisen, zu besingen.... Kabir ist trunken von Gottesliebe, die im Mittelpunkt jedes einzelnen Gedichtes steht.“

„Wenn er sich selbst offenbart,
bringt ihn Brahma zur Offenbarung,
das ewig Unsichtbare.
Wie in der Pflanze der Same,
im Baum der Schatten,
wie die Leere des Raumes im Himmel,
wie in dieser Leere unendliche Formen –
So kommt von jenseits des Unendlichen
das Unendliche.
Und von diesem geht das Endliche aus.
Das Geschöpf ist in Brahma
Und Brahma ist im Geschöpf;
Sie sind ewig verschieden
und doch ewig eins.

Er Selbst ist der Baum, der Same, der Ursprung,
Er Selbst ist die Blume, die Frucht und der Schatten;
Er ist die Sonne, das Licht und das Erleuchtete auch.
Er Selbst ist Brahma, Schöpfung, und Maya.
Er Selbst ist die Vielfalt der Form, der unendliche Raum;
Er ist der Atem, das Wort und der Sinn.
Er Selbst ist zugleich
Ende und Unendlichkeit,
und jenseits von beidem,
dem Endlichen und Unendlichen,
ist Er, das reine Sein.
Er ist der lebendige Geist
in Brahma und im Geschöpf.
Die Höchste Seele ist sichtbar
im Innern der Seele;
Der Mittelpunkt ist sichtbar
inmitten der Höchsten Seele,
und, Mittelpunkt Selbst,
reflektiert Er sich wieder.
Kabir ist gesegnet,
ob dieser höchsten Schau.“

„Welch ein wunderbarer Lotus ist dies,
der blüht im Herzen
des Spinnrads des Alls!
Nur ein paar reine Seelen
Wissen um seine wahre Wonne.
Musik ist allüberall,
und das Herz hat dort Teil
an der Freude der Unendlichen See.
Kabir sagt:
Tauche in diesem Ozean der Süße:
Also lasse entfliehen
Alles Irren von Leben und Tod.“

„ER trinkt aus dem Becher
des Ein- und Ausatmens der Liebe.“

„Öffne deine Augen der Liebe
und schaue Ihn, der diese Welt durchdringt!
Bedenk es wohl und wisse,
daß dies dein eigenes Land.
Wenn du dem wahren Meister begegnest,
wird Er dein Herz erwecken.
Er wird dir das Geheimnis der Liebe sagen
und des Losgelößtseins,
und dann wirst du wahrhaftig wissen,
daß Er über das Universum hinausreicht.“

„Dort spielt der Schwan sein wundersam Spiel,
dort wirbelt die Urmusik um den Einen Unendlichen;
dort inmitten erglänzt der Thron des Unfassbaren,
auf dem das große Sein sitzt –
Millionen Sonnen sind beschämt vom Glanz
eines einzigen Haars Seines Körpers.
Welch‘ wahrhafte Melodien ertönen,
auf der Harfe des Weges!
Ihre Töne dringen ins Herz:
Dort spielt der Ewige Quell
Seine ewigen Lebensströme
von Geburt und Tod.
Sie nennen ihn Nirwana,
in dem alle Wahrheit gespeichert!
Dort in Ihm die Schöpfung hält an,
die jenseits aller Philosophie,
denn Philosophie kann Ihn nicht erreichen.“

„Dort fällt der rythmische Schlag
von Leben und Tod:
Entzücken quillt hervor
Und aller Raum erstrahlt im Licht.
Dort hört man den Urton:
Es ist die Musik der Liebe
aller drei Welten.
Dort brennen Millionen Lampen
Von Sonne und Mond.“

„Vom OM-Hauch
Sind alle Dinge erschaffen;
Die Liebe ist seine körperliche Erscheinung.
OM ist selbst ohne Gestalt,
ohne Eigenschaften,
ohne Vergehen:
Suche die Einung mit Ihm!
Aber diese gestaltlose Gottheit
nimmt tausend Gestalten an
in der Augen Ihrer Geschöpfe
rein ist Sie und unzerstörbar,
unendlich und unergründlich.
Sie tanzt in Verzückung
und Wellen erheben sich aus
diesem Tanz von Gestalt.
Körper und Geist können’s nicht fassen,
wenn sie erfaßt
der Gottheit großes Entzücken.
Sie ist enthalten in allem Bewußtsein,
allen Freuden und Sorgen.
Sie hat weder Anfang noch Ende;
Sie hält alles
in Ihrer Gnade.“

„Oh, der du Mir dienst, wo suchest du Mich?
Siehe, Ich bin bei dir.
Ich bin weder im Tempel noch in der Moschee,
weder in der Kaaba noch auf dem Kailasch.
Weder bin Ich in Riten und Zeremonien,
noch in Yoga oder Entsagung.
Wenn du ein wahrhaft Suchender bist,
wirst du Mich sogleich sehen,
Mir begegnen im gleichen Augenblick.
Kabir sagt: O Sadhu!
Gott ist der Atem
Allen Atems.“


Gewiß hätte die Auswahl der Gedichte anders sein können, aber eine Auswahl von Einzelnen oder Teilen mußte wegen Platzmangel getroffen werden. Die überlieferten Schriften sind in umgansprachlichem Hindi abgefaßt. Es ist nicht bekannt, wieviele davon authentisch sind. Die Gedichtssammlung, der die obigen Gedichte entnommen sind, ist aber mit Sicherheit als echt zu betrachten.

D. Storz

Quellen:
Shri Mataji in: Sahasrara Day Puja – Cabella di Ligure 1998 (QRW 62/1998,11)
Shri Kabir: Im Garten der Gottesliebe – Heidelberg 1984